Bis
1945:
Der hier vorgestellte Rüstungsbetrieb war der flächenmäßig ausgedehnteste
seiner Art in Deutschland. Auf dieser Seite wird über das Kerngelände mit
den Produktionsanlagen berichtet. Eine weitere Seite stellt die Außenanlagen der
Liegenschaft vor. Für Errichtung und Betrieb des Komplexes wurden verschiedene
Arbeitslager eingerichtet, auch dafür gibt es eine separate Seite.
Im Jahr 1938 begannen die Planungen zur Errichtung einer Pulverfabrik im Gebiet
zwischen den Orten Liebenau und Steyerberg. Eigentümer des Grundstückes
wurde die Montan GmbH, Eigentümer der Werksanlagen das Oberkommando des
Heeres. Das OKH beauftragte die Firma Wolff & Co aus Bomlitz mit dem Bau des Werkes. Nach Fertigstellung wurde der Komplex an die Montan
GmbH übergeben. Diese verpachtete den Betrieb an die Eibia GmbH, eine
Tochter von Wolff & Co. Die Eibia wiederum fertigte für das OKH. Diese Verflechtungen von vier Beteiligten,
„Rüstungsviereck“ genannt, wurden bei den meisten vergleichbaren Anlagen
angewandt.
Für die Eibia GmbH war, nach den Anlagen Waldhof, Walo
I und Walo II am Stammsitz in Bomlitz, und der Anlage Weser in Dörverden, Liebenau der fünfte Produktionsstandort.
Das hiesige Gelände wies gute Voraussetzungen für eine große
Pulverfabrik auf. Ein ausgedehntes Waldgebiet bot Tarnmöglichkeiten gegen
Fliegersicht. Auf dem Areal befanden sich ergiebige Grundwasservorkommen.
Die Eisenbahnstrecke von Nienburg über Liebenau und Steyerberg nach Rahden
stellte die Verbindung zur Reichsbahn sicher. Darüber hinaus konnte für
den Umschlag von Massengütern die in der Nähe fließende Weser genutzt
werden.
Eigentümer des größten Teils der Grundfläche war der Bewohner des Schlosses
Eickhof, Major a.D. Eduard von Eickhof-Reitzenstein. Er erhielt für seinen
Besitz 3.160.207 RM. Außerdem wurden weitere 95 Kleineigentümer enteignet
bzw. entschädigt. Das so von der Montan GmbH erworbene Gebiet erstreckte
sich über knapp 7 km Länge und durchschnittlich 2,5 km Breite. Damit
umfaßte allein der Produktionsbereich über 10 km², das gesamte Areal
über 13,5 km². Weitere Flächen für einen Hafen an der Weser und für Arbeitersiedlungen
und -lager bei Steyerberg kamen noch dazu.
Schon im Sommer 1939 konnte mit dem Bau begonnen werden. Rund
70 Firmen wurden dabei beteiligt. Auch der RAD stellte Arbeitstrupps.
Mehrere tausend Beschäftigte wurden nun eingesetzt. Sie waren in verschiedenen Lagern in der Umgebung untergebracht. Der Bau wurde nach Beginn des II. Weltkrieges mit Hochdruck voran
getrieben. Nun kamen hier auch Kriegsgefangene und angeworbene Fremdarbeiter
sowie Zwangsarbeiter zum Einsatz. Auch die Häftlinge eines Arbeitserziehungslagers
sind hier eingesetzt gewesen.
In der ersten Phase sind 356 Gebäude errichtet worden. Davon waren 231
oberirisch gebaut, weitere 104 gleicher Art hat man aus Sicherheitsgründen
mit einem Erdwall umgeben. 21 Bauwerke wurden mit dem Hauptteil unter
der Erdoberfläche befindlich geschaffen. Zum einen waren dies die Produktionsgebäude
im besonders empfindlichen Bereich zur Herstellung von Nitroglycerin
(NG-Bereich). Zum anderen wurden auch die zwei Kohlekraftwerke so geschützt
gebaut. Alle Bauten konnten auf der riesigen Grundfläche weit auseinanderliegend
errichtet werden, ein wichtiger Sicherheitsaspekt für die Herstellung
von Explosivstoffen. Durch weitere Projekte stieg die Zahl der Gebäude
bis zum Kriegsende auf 392.
Es wurde hautsächlich in der Stahlbetonskelett-Bauweise errichtet. Dieses
Skelett ist mit leichteren Klinkerziegeln ausgemauert worden. Dadurch
schuf man sogenannte Ausblaswände, die bei einer Explosion nachgaben
und den Druck von der Hauptkonstruktion nahmen. So konnte relativ schnell
das Gebäude wieder hergerichtet werden. Die Flachdächer der Häuser bepflanzte
man mit Nadelbäumen und Büschen, um so Schutz gegen Fliegersicht zu erreichen.
Einzelne Häuser wurden dagegen in völlig ziviler Ausführung geschaffen.
Damit wollte man erreichen, daß beim Blick aus einem Flugzeug das dichte
Wegenetz scheinbar Wohnhäuser miteinander verband.
Die Infrastruktur wurde darauf ausgerichtet, daß das Werk weitestgehend
autark arbeiten konnte. Zwei große Kraftwerke mit je 15.000 kW Leistung
waren vorhanden. Sie wurden mit Kohle betrieben. Dafür gab es am Südostrand
des Geländes einen Kohlenbunker mit 30.000 t Fassungsvermögen. Der Nachschub
wurde mit Lastkähnen auf der Weser herangeschafft. Von dort kam er auf
dem Gleisanschluß zum Vorratsbunker. Die Kraftwerke wurden ebenfalls
über Gleisanschlüsse beschickt, die Kohle konnte durch Schächte zu den
Öfen abgekippt werden. Zusätzlich entstand im Osten des Geländes ein
dieselbetriebenes Reserve-Kraftwerk, das in Notfällen ergänzen konnte.
Das Stromleitungsnetz umfaßte rund 200 km. Über diverse Trafostationen
wurde die Hochspannung auf 500 V für Maschinen und 220 V für das Lichtnetz
heruntertransformiert.
Neben der Energie war die Bereitstellung großer Mengen von Wasser für
die Herstellung von Pulver unabdingbar. Im Süden der Liegenschaft wurden
nahe der Aue rund 70 Tiefbrunnen gebohrt. Über zwei Pumpwerke konnten
daraus bis zu 2.500 m³ Wasser je Stunde zu den Filterstationen Eickhöfer
Heide und Maiwiese geliefert werden. Dort wurde neben dem Brauchwasser
auch das Trinkwasser für alle Bereiche bereitgestellt. Das Rohrleitungsnetz
für Brauchwasser umfaßte auf dem Gelände rund 98 km, das für Trinkwasser
40 km. Der Wasserverbrauch des Werkes übertraf unter Vollast den der
Stadt Bremen.
Die Wassermassen mußten natürlich auch wieder entsorgt werden. Dazu gab
es ein umfangreiches Netz von Abwasserleitungen. Die normalen Abwässer
wurden nach einer Vorklärung in den Winterbach abgeleitet, der das Werksgelände
durchquert und zur Aue fließt. Die stark belasteten Schmutzwässer sind
mit angeblich gering verunreinigten Abwässern verdünnt und über ein säurebeständiges
Holzrohr zur Weser geleitet worden.
Die Infrastruktur komplettierte ein Straßennetz von ca. 84 km. Das Gleisnetz
umfaßte mit der Strecke zum Bahnhof und Hafen 42 km. Darauf waren Wolff-eigene
Lokomotiven eingesetzt. Zwei Dampfloks und zwei Dieselloks waren dabei.
Zusätzlich standen zwei Dampfspeicher-Lokomotiven bereit. Sie übernahmen
Aufgaben in besonders gefährdeten Bereichen. Diese Loks wurden mit Dampf
aus den Kohlekraftwerken befüllt und konnten so ohne eigene Verbrennung
ihre Arbeit verrichten. Auch auf den Straßen kamen Fahrzeuge ohne Verbrennungsmotoren
zum Einsatz. 80 Elektrokarren waren hier vorhanden.
Die Produktionsgebäude und -anlagen waren in verschiedene räumlich voneinander
getrennte Gebiete aufgeteilt. Es gab die Bereiche zur Fertigung von Nitrocellulose
(NC), Nitroglyzerin (NG) und Diethylenglycoldinitrat (DEGN) als Grundstoffe
für rauchloses Pulver (RP). Des Weiteren fertigte die Eibia in Liebenau
vor allem Röhrchen-, Blättchen- und Ringpulver. Dazu kamen Trockenanlagen
und Fertiglager. Komplettiert wurde das Ganze durch die Abnahme mit angeschlossenem
Schießstand im Nordwesten der Liegenschaft. Hier wurden fertige Produkte
durch Kräfte einer Heeresabnahmestelle geprüft. Es standen zwei Schießbahnen
zur Verfügung, die Meßeinrichtungen für Geschwindigkeit, Einschlags-
und Durchschlagskraft enthielten. Auch Meß-, Kühl- und Geschützhallen
waren dort vorhanden.
Die Anlage Liebenau wurde im April 1943 fertiggestellt. Aber
bereits seit Sommer 1941 lief die Herstellung der verschiedenen Pulversorten
und Vorprodukte. Die Belegschaft bestand aus etwa 2.800 Kräften. Davon
waren lediglich 200 Deutsche in Schlüsselpositionen eingesetzt. Die Mehrzahl
der Beschäftigten sind Fremd- und Zwangsarbeiter aus den meisten der
von Deutschland besetzten Länder Europas gewesen.
Durchschnittlich sind von ihnen monatlich 1.200 t Pulver produziert worden.
In Spitzenzeiten 1943/44 waren es 1.700 Monatstonnen. Bis zum Ende des
II. Weltkrieges kamen so rund 45.000 t Pulver zusammen.
Die weitläufige Anlage bot genug Flächenkapazität für Erweiterungen.
Ab 1943 kam als zusätzlicher Produktionszweig ein Preßwerk für Sprengköpfe
des Marschflugkörpers V 1 dazu. Im Mai 1944 wurde eine neue Gießlingsanlage
errichtet, in der Rauchspurkörper für die Raketen der Nebelwerfer gefertigt
wurden. Auch Versuche mit Starthilfen für Flugzeuge und Raketen wurden
hier gemacht. In dem Zusammenhang ist im gleichen Jahr ein entsprechender
Prüfstand begonnen worden. Diese Vorhaben sind aber bis zum Kriegsende
nicht mehr aus dem Versuchsstadium herausgekommen.
Obwohl den Alliierten die Anlage durch Luftaufklärung bekannt
war, gab es während des Krieges keine Luftangriffe auf das Werk. Das
gleiche gilt für die meisten Pulver- und Munitionsfabriken. Die Strategen
der Siegermächte hatte andere Ziele bevorzugt. Am 10. April 1945 wurde
das somit völlig intakte Werk von britischen Verbänden besetzt, damit
endete der Krieg für Liebenau.
Ab 1945:
Von den Briten wurde das Werk und ein Teil der Werksunterkünfte sowie
das Schloß Eickhof requiriert. Auch diverse Privatwohnungen in Liebenau
haben sie zur Unterbringung für einige Jahre beschlagnahmt.
Die Britische Armee wurde nun neuer Nutzer der Werksanlage. Auf dem Gelände
ist bald darauf eine Sammelstelle für Munition eingerichtet worden. Von
deutschen Verbänden zurückgelassene Munition aus der weiteren Umgebung
brachte man hierher. Auch befanden sich noch große Mengen explosiver
Stoffe aus dem Produktionsbetrieb auf dem Areal. Weitere Nutzungen schlossen
sich an, dazu weiter unten mehr.
Im Oktober 1947 ist die Pulverfabrik zur Demontage freigegeben worden.
Dabei setzten die Alliierten bis zu 500 Arbeiter ein, überwiegend deutsche
Kriegsgefangene und Vertriebene aus ehemals deutschen Ostgebieten. Die
Tätigkeit war sehr gefährlich, da in vielen Rohrleitungen hochexplosive
Produktionsreste verblieben waren. Sämtliche Fertigungsanlagen wurden
abgebaut und in verschiedene Länder Europas exportiert. Die Demontage
dauerte über nahezu drei Jahre an. Insgesamt verließen 7.940 t demontierten
Materials das Werk.
Während alle anderen Eibia-Anlagen nach der Demilitarisierung abgerissen
wurden, blieben in Liebenau fast alle Gebäude unversehrt stehen. Nur
im NG-Bereich fanden Sprengungen statt, auch für andere Bereiche besonders
wichtige Objekte, wie das Zentrallabor sind zerstört worden. Die Sprengung
der gesamten Anlage unterblieb, da bereits eine Weiternutzung als großes
Munitionsdepot begonnen hatte.
Im September 1951 ging der Grundbesitz und das noch vorhandene Anlagevermögen
an den Rechtsnachfolger der Montan GmbH über, die Industrieverwaltungsgesellschaft
mbH (IVG) mit Sitz in Bonn. Die IVG ist bis heute Besitzer der Liegenschaft.
Sie verpachtete im Laufe der vergangenen Jahrzehnte an die verschiedensten
Nutzer, darunter waren militärische Dienststellen, Rüstungsindustrie
und zivile Betriebe.
Die militärische Nutzung der Anlage:
Da
das britische Militär das Werksgelände gleich nach Ende des II. Weltkrieges
übernahm, kam es zu keinem Stillstand in der Verwendung der Liegenschaft.
Von ihnen wurde hier ein großes Munitionsdepot eingerichtet, in dem sowohl
deutsche Beutemunition gesammelt, als auch eigene Bestände eingelagert
worden sind. Während die deutsche Munition durch Vernichtungen ständig
reduziert wurde, stieg die Einlagerung britischer Munition enorm an.
Das Depot betrieb nun das „3. Base Ammunition Depot“ des British Army
Ordnance Corps (3 BAD RAOC). Liebenau wuchs zum größten Munitionsdepot
Deutschlands heran. Dem Vorhandensein dieser Dienststelle war es zu verdanken,
daß der überwiegende Teil der Infrastruktur erhalten blieb. Das Kraftwerk
2, Wasserwerk Maiwiese, die meisten Eibia-Gebäude, der Hafen und die
Verkehrsanlagen blieben von Zerstörungen verschont. Von der Zivilbevölkerung
in der Umgebung wurde das positiv aufgenommen, man hoffe damit für spätere
Zeiten gute Chancen auf die Ansiedlung von Industrie zu haben. Aber auch
das Munitionsdepot wurde zu einem bedeutenden Arbeitgeber. Schon bald
waren über 1000 Personen dort beschäftigt. Darunter viele Flüchtlinge
und auch ehemalige Fremd- bzw. Zwangsarbeiter, die in Deutschland geblieben
waren. Allerdings trat in der Beziehung schon 1953 ein Verlust ein. Da
sich die Spannungen zwischen NATO und Warschauer
Pakt verschärften, traf das Britische Verteidigungsministerium die Entscheidung,
das Munitionsdepot aus strategischen Gründen möglichst weit westwärts
zu verlegen. Im Sommer des Jahres folgte der Umzug des 3 BAD in das neue
Depot Brüggen-Bracht, unmittelbar an der Grenze zu den Niederlanden.
Dieses wurde nun das größte MunDp Westeuropas. Damit sind in Liebenau
zahlreiche Beschäftigte arbeitslos geworden.
Hier am Ort verblieb lediglich ein kleines Munitionsdepot zur Versorgung
von Einheiten der umliegenden Garnisonen. Als neuer Impuls für den lokalen
Arbeitsmarkt sah man 1953 das neu errichtete Reparaturwerk nördlich des
Eibia-Geländes, siehe dazu die Seite über die Außenanlagen.
Von 1952 - 55 nutzte das 79 Railway Sqn RE das umfangreiche Gleisnetz
zum Training von militärischem Eisenbahnpersonal. Auch Transport- und
Instandsetzungseinheiten waren bis 1978 in den Steinlagern Liebenau und
Steyerberg stationiert. Darunter vom Royal Corps of Transport das 1 Div
Regt, das 12 Sqn und der 10 Corp Tpt Regt Wksp. Letzte Dienststelle der
British Army of the Rhine in Liebenau war das 45 Spt Sqn RE, welches
das in Nienburg stationierte 21 Eng Regt RE unterstützte. Mit Aufgabe
der Garnison Nienburg Mitte der 1990er Jahre ist auch Liebenau von den
Briten endgültig aufgegeben worden.
Da
der Flächenbedarf der Briten ja seit 1953 erheblich gesunken war, konnte
1956 die gerade aufgestellte Bundeswehr einen großen Bereich im Nordwesten
übernehmen, um hier zunächst ein Gerätedepot einzurichten. Es wurden
rund 300 ha separat abgezäunt, annähernd ein Drittel des gesamten Werksgeländes. Hinter
dem Mainscher Tor entstand ein Barackenlager, künftig „Mainscher Lager“
genannt, in dem Verwaltung und Sozialbereiche sowie die Unterkünfte angesiedelt
wurden. Der frühere Abnahme-Schießstand fand eine neue Aufgabe als Standort-Schießanlage.
Am 10. April 1956 zog die Truppe ein. Sie bildete nun die Material-Übernahmegruppe
II Nord, unterstellt der Materialübernahmegruppe Hesedorf.
Ihre Aufgabe war die Übernahme der überwiegend aus den USA zugeführten
militärischen Geräte. Dafür war der Standort Liebenau im Norden der Bundesrepublik
gut geeignet. Die Lieferungen trafen per Schiff in Bremerhaven ein und
wurden dann auf dem Schienenweg hierher gebracht. Zunächst sichtete das
Personal der Gruppe das eingetroffene Material, dann wurde es sortiert
und nach Fachgebieten getrennt eingelagert. Vieles ging nach kurzer Zeit
weiter an die aufnehmenden Einheiten und Verbände, anderes wurde für
den späteren Bedarf deponiert.
Am 15. Januar 1958 erhält die Dienststelle die neue Bezeichnung „Gerätepark
Liebenau“. Etwa zur gleichen Zeit wurde von der Verwertchemie auf dem
IVG-Gelände südlich des Bundeswehrdepots eine neue Munitionsfabrik eingerichtet.
Vom Depot ist in dem Zusammenhang gut 100 ha Fläche
an die Verwertchemie abgegeben worden. Die Liegenschaft erhielt dadurch
mit 198 ha ihre endgültige Ausdehnung.
Bei der Vernichtung von Phosphorbomben aus dem II. Weltkrieg auf dem
IVG-Gelände außerhalb des Gerätedepots, kam es am 19. Juni 1957 zu einer
Explosion. Daraus entwickelte sich ein Brand, der etwa 30 ha Wald
vernichtete. Bei den Löscharbeiten setzte man über 1.000 Mann ein, zum
Glück gab es nur zwei Verletzte. Dieses Unglück sollte aber für das Gerätedepot
Folgen haben. Das Bundesverteidigungsministerium sah nun eine Gefährdung
ihrer teilweise im Freien eingelagerten Millionenwerte. Daher wurde beschlossen,
Liebenau in ein Munitionsdepot umzuwandeln, Granaten konnten in den Gebäuden
geschützt untergebracht werden.
Im Juni 1958 begann die Übernahme von Munition des Heeres aus dem Depot
Rehden, da diese Liegenschaft an die Luftwaffe übergeben werden sollte. Im Oktober
übernahm Liebenau auch die Munitions-Instandsetzungsanlage von dort.
Ab jetzt sind hier täglich bis zu 400 155 mm-Granaten instand gesetzt
worden. Bis zum September gleichen Jahres wurden die eingelagerten Gerätebestände
immer weiter verringert. Die Aufgabe der Materialübernahme bekam nun
das Gerätedepot Hesedorf.
1960 erfolgte die Umbenennung in „Munitionsdepot Liebenau“ (MunDp LIE).
Das Gelände wurde in drei Munitionsbezirke und einen Gerätebezirk aufgeteilt.
Diese Gliederung blieb bis zum Schluß bestehen. Das Depot bekam für die
Munitionsbewirtschaftung einige Bedeutung, es sollte nun Nebenlager einrichten.
Zunächst wurde das KorpsDp
152, Leese mit 4000 t befüllt. Später war auch das MunDp Walsrode aufzurüsten. Während
der Kuba-Krise im Jahr 1962 richtete die Depot-eigene NschDpKp 811 nahe
der Grenze zu den Niederlanden beim niedersächsischen Itterbeck ein Munitions-Behelfslager
ein und befüllte es entsprechend. 1964 mußte das neue KorpsDp 156, Hesepe mit 2000 t Munition befüllt werden.
In Liebenau selbst gab es im Laufe der jahrzehntelangen Nutzung diverse
Baumaßnahmen. Teile der Munition mußte aus Platzgründen von 1963 bis
1978 auf neu geschaffenen Freilagerflächen in Zelten untergebracht werden.
Ende 1974 begann man, das aus provisorischen Baracken bestehende Mainscher
Lager in eine moderne Truppenunterkunft zu verwandeln.
Der Betrieb lief bis zum Ende des Kalten Krieges weiter. Im Rahmen der
danach einsetzenden allgemeinen Abrüstung zeichnete sich jedoch frühzeitig
ab, daß der Standort Liebenau aufgegeben wird. Schließlich war die Liegenschaft
ja lediglich von der IVG angepachtet. Eine erste Reduzierung erfolgte
am 1. April 1994. Das vorher eigenständige Depot wurde zum „Teildepot
Munition“ (TDp Mun) abgewertet, und dem Munitionshauptdepot Walsrode
(MunHDp WAL) unterstellt. Am 31. März 1995 schloß Liebenau endgültig
seine Pforten.
Die Pachtverträge mit der IVG sahen vor, daß bei einer Rückgabe des Geländes
der bauliche Zustand von 1956 wieder hergestellt werden sollte. Dafür
mußten man diverse Schutzwälle abtragen. Fast alle der modernen Kasernengebäude
sind in Herbst 1999 abgerissen worden. Einzelne Bauwerke der Bundeswehr
blieben jedoch stehen, wenn sie für die Ansiedlung von Gewerbe tauglich
erschienen.
Neben dem großen Munitionsdepot gab es auf dem Werksgelände
noch zwei weitere kleinere Einrichtungen der Bundeswehr. Im Osten des
Areals, innerhalb des verbliebenen britischen Munitionsdepots, wurde
Anfang der 1960er Jahre eine Standortmunitionsniederlage vom Typ K eingerichtet.
In dieser separat abgezäunten Anlage ist Munition für den Bedarf der
Truppen aus der Garnison Nienburg bereit gehalten worden. Das Lager bestand
bis ins Jahr 1993.
Im Herbst 1995 wurden vorübergehend Kampfmittel aus dem II. Weltkrieg
in Liebenau eingelagert. Vermutlich hat man dafür die Lagerbunker der
StOMunNdlg genutzt. Die Munition kam von der Sammelstelle in Munster,
da deren Aufnahmekapazität erschöpft war. Allerdings gab es in Liebenau
sogleich Proteste dagegen, so wurde schon nach kurzer Zeit wieder ausgelagert.
Südlich der StOMunNdlg entstand 1963 eine binationale Anlage.
In diesem kleinsten Lager auf dem ehemaligen Eibia-Gelände wurde die
brisanteste Ladung deponiert. Die nur zwei Munitionslagerhäuser der Liegenschaft
enthielten atomare Sprengköpfe für den Bedarf der 1. Panzerdivision. Die Liegenschaft war durch Doppelzaun gesichert, die Bewachung führte die Bundeswehr
durch. Dazu stand eine Begleitbatterie bereit, die ihre Unterkunft im
Mainscher Lager hatte. Die Einheit war anfangs dem Nienburger RakArtBtl
12 unterstellt, wurde aber im Rahmen der Artilleriestruktur 85 eigenständig.
Das Vorhandensein solcher Anlagen ist geheimgehalten worden. Sie wurden
mit „Sondermunitionslager“ umschrieben. Zum Thema Atomwaffen gibt es
eine eigene
Seite.
Die
nuklearen Einsatzmittel verblieben unter der Verwaltung der USA. Diese
hat dafür in Liebenau das 32nd US Army Field Artillery Detachment eingesetzt.
Die Unterkünfte dieser Truppe waren allerdings auf einer Teilfläche der
Clausewitz-Kaserne in Nienburg-Langendamm angesiedelt. Dort zeugt noch
heute ein großer Richtfunkturm von deren früherer Anwesenheit. Ebenfalls
1993 ist dieses Depot aufgelöst worden.
Die rüstungsindustrielle Nutzung der
Anlage:
Mit Aufstellung der Bundeswehr begann auch die deutsche Rüstungsindustrie
sich wieder zu formieren. Die Dynamit AG plante ab 1956 dafür Explosivstoffe
herzustellen. Deren früheres Werk bei Geesthacht an der Elbe kam aufgrund
regionaler Proteste nicht als Produktionsstandort in Frage. So fiel die
Wahl auf Liebenau. 1957 wurden von der IVG die Bereiche des Werkes angepachtet,
die nicht von der Britischen Armee bzw. der Bundeswehr belegt waren.
Das Gerätedepot gab zur gleichen Zeit eine Fläche von ca. 100 ha ab.
Die Dynamit AG, seit 1959 Dynamit Nobel AG genannt, brachte in Liebenau
ab Ende 1957 Tochterfirmen unter. Größte davon war die „Gesellschaft
beschränkter Haftung zur Verwertung chemischer Erzeugnisse„ kurz Verwertchemie.
Eine Firma gleichen Namens bestand schon im III. Reich, zur Unterscheidung
wurde die neue mit VC2 bezeichnet. Die weiteren Firmen waren die Liebenau-Chemie
GmbH und die Liebenau-Metall GmbH. Am 20. April 1961 kam schließlich
noch die „Studiengesellschaft für Gasdynamik“ dazu, welche an der Entwicklung
von Flugkörpern arbeitete. Allerdings verlegte bereits im Dezember 1961
die Komponentenfertigung der Liebenau-Metall in die ehemalige Sprengstoffabrik
Empelde.
Die Verwertchemie baute Liebenau mit modernen Produktionsanlagen zur
einer großen Rüstungsfabrik aus. Zahlreiche vorhandene Gebäude konnten
weiter genutzt werden, diverse neue kamen dazu. Anstelle der demontierten
Eibia-Anlagen baute man neue Fertigungsmaschinen auf. Das erhaltene Kraftwerk
2 wurde von Kohle auf Gas umgerüstet.
Die Produktpalette legte die Verwertchemie sehr umfangreich an. Hergestellt
wurde plastischer Sprengstoff, gepreßte Sprengkörper und Übertragungsladungen
aus TNT und Tetryl, gegossene Sprengladungen, Zündmittel sowie diverse
Pulver und Festtreibstoffe. Komplette Munition für Artilleriegeschütze
des Heeres und Bordgeschütze der Marine sowie Panzerabwehrmunition, Minen
und Artillerieraketen rundeten die Palette ab.
Anfang der 1960er Jahre war die Verwertchemie Liebenau die größte „Pulverfabrik“
in der Bundesrepublik. 1962 fanden hier 2.500 Personen Arbeit. Doch schon
kurz danach kam es in der Branche zu deutlichen Auftragseinbrüchen. Der
Munitionsbedarf der Bundeswehr war von nun an rückläufig. Als Folge hat
man den Personalbestand reduziert. Außerdem wurden 1972 einige Produktionszweige
in andere Standorte verlegt. 1974 waren nur noch 500 Arbeiter beschäftigt.
Im Jahre 1973 beteiligte sich die Dynamit Nobel AG mit 33% an der niederländischen
Rüstungsgesellschaft „Artillerie-Inrichtingen“, welche fortan unter dem
Namen „Eurometaal N.V.“ firmierte. Dynamit und Eurometaal teilten nun
die Herstellung von klein- und großkalibriger Munition untereinander
auf. Dafür wurden die Werksteile für großkalibrige Munition in Liebenau
der Eurometaal übergeben. 1977 stellt die Verwertchemie ihr Wirken in
Liebenau ein. Die Eurometaal übernahm nun das gesamte Werk.
Von der nach wie vor niederländischen Firma Eurometaal N.V. wurde Munition
aus Liebenau auch in Krisengebiete exportiert, das kollidierte aber mit
deutschen Rüstungs-Kontrollgesetzen. Anfang 1992 verhinderte der Bundessicherheitsrat
die Lieferung von 18.000 Splittergranaten aus Liebenau an die Türkei.
Es wurde befürchtet, daß die Munition dort gegen die Kurden im eigenen
Land eingesetzt werden sollte. Daraufhin ließ Eurometaal von Anfang 1994
bis 31. März 1995 sämtliche Produktionsanlagen in Liebenau abbauen und
über die Niederlande in die Türkei exportieren. Am Schluß stand die endgültige
Schließung der Rüstungsindustrie in Liebenau, bei der die letzten Beschäftigten
entlassen wurden.
Es muß an dieser Stelle erwähnt werden, daß der Betrieb einer Pulverfabrik
immer ein großes Gefahrenpotential darstellte. So ereignete sich am 18.
Oktober 1971 auf dem Gelände der Verwertchemie ein schweres Explosionsunglück,
bei dem ein mehrstöckiges Produktionsgebäude völlig zerstört wurde. Fünf
Arbeiter kamen dabei ums Leben.
Die zivile Nutzung der Anlage:
Bereits Ende der 1940er Jahre konnte ein Teil am Südrand des ehemaligen
Werksgeländes in eine friedliche Nutzung überführt werden. Das Wasserwerk
„Eickhöfer Heide“ wurde 1949 durch die Harzwasserwerke (HWW) übernommen.
Diesen Bereich hatte man nun aus der Umzäunung herausgenommen. Das
Wasserwerk nutzte zunächst 30 ehemalige Eibia-Brunnen für die Gewinnung
von Trinkwasser. Da aber die Qualität des Rohwassers beanstandet wurde,
mußten neue Brunnen gebohrt werden. Das Trinkwasser wurde in die Harzwasserleitung
eingespeist, welche die Großstadt Bremen versorgte. Dazu ist 1951 eine
600 mm-Leitung zum 12 km entfernten Wasserbehälter Holterheide gelegt
worden.
1977 nahm am Südrand der Eibia-Anlage ein Chemiewerk der Dynamit
Nobel AG seinen Betrieb auf, welches ausschließlich für friedliche Zwecke
produzierte. Es nutze nur einen relativ kleinen Teil vom ehemaligen Werksgelände,
die Masse der Fabrik stand außerhalb. Siehe dazu auch die Seite über
die Außenanlagen.
Am 1. September 1981 ging im Südwesten des IVG-Geländes die
niedersächsische Landessammelstelle für radioaktive Abfälle in Betrieb.
Dafür wurde ein Bereich abgezäunt und mit neuen Lagerbauten ausgestattet.
In dieser Einrichtung sind schwachradioaktive Stoffe aus Medizin und
Forschung eingelagert worden. Betreiber war die Firma Amersham Buchler.
In den 1990er Jahren ist das Lager in die ehemalige Kampfstoffabrik Leese umgezogen.
Seit 1995 sind keine großen Nutzer mehr auf dem ehemaligen
Werksgelände vorhanden. Das Areal ist schwierig zu vermarkten. Lediglich
verschiedene kleine Verpachtungen gibt es, die manchmal nur vorrübergehend
bestehen. Zum Beispiel wurde einige Zeit der Kohlenbunker als Deponie
von einer Recycling-Firma genutzt. Da es einige Probleme damit gab, wurde
das Ganze jedoch wieder eingestellt. Ein anderes Beispiel ist die Einlagerung
von Feuerwerksartikeln durch die Bremerhavener Comet Pyrotechnik.
Ein häufiger Gast, insbesondere im westlichen Gebiet, ist heute das THW.
Der NG-Bereich bietet hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten, wenn es
um Bergungen, Sicherungsmaßnahmen und Sprengungen geht.
Zustand:
Die Gesamtanlage dürfte heute vermutlich der letzte weitgehend in seiner
ursprünglichen Form erhaltene Rüstungsbetrieb aus der Zeit des III.
Reichs in Deutschland sein. Da es nach der Demontage zu nur wenigen
Sprengungen kam und weite Teile über Jahrzehnte weiter genutzt wurden
blieb das Meiste erhalten. Dazwischen sind natürlich auch einige Anlagen
zu finden, die erst während der Nachnutzung entstanden.
Zugang:
Das gesamte frühere
Werksgelände darf nicht betreten werden! über die Dokumentationsstelle werden jedoch Führungen angeboten, Kontakt über
die Website von Martin Guse.
Hinweis:
Im Herbst 2023 wurde in Liebenau die Gedenk- & Bildungsstätte
eröffnet:
https://www.doku-liebenau.de
Dieses Buch behandelt das Thema Zwangsarbeit in der Pulverfabrik Liebenau:
Titel: „Ich war in Eurem Alter, als sie mich abholten!“
Autoren: Bodo Förster, Martin Guse
ISBN: 3-00-009250-1 |
Blick
aus der Vogelperspektive mit Google Maps:
Fotos:
Allgemeine Anlagen:
Am ehemaligen Liebenauer Tor steht nur noch Gebäude 1001, eine Werkstatt.
Sie wurde 1998 zum Jugendzentrum umgebaut.
Das Nordtor war die Hauptzufahrt zur Verwertchemie bzw. Eurometaal.
Das Eisenbahntor am Südostrand des Werksgeländes.
Die frühere Fernmeldezentrale wird heute vom Revierförster bewohnt.
Im Süden steht die ehemalige Zentralwerkstatt.
Der Kohlenbunker mit einer Kapazität von 30.000 Tonnen. Auf den Seitenwänden
stand früher ein Laufkran mit 5 t Tragkraft.
Die Reinwasser-Filterstation 2 befindet sich heute außerhalb der Umzäunung.
Genutzt wird sie seit 1949 durch die Harzwasserwerke. Auf dem ursprünglichen
Flachdach wurde ein zusätzlicher Bau aufgesetzt.
Ein Blick auf dem Reeser Weg Richtung Norden läßt die weitläufigen Dimensionen
des Geländes erahnen.
RP-Bereich:
Durch die üppig gewachsene Vegetation hat die Dachbepflanzung heute mehr
Tarnwirkung als im Krieg.
Die Verbindungswege in diesem Bereich liefen aus Sicherheitsgründen versenkt
und mit Beton eingefaßt.
Ein Merkmal dieser Wege war die geschwungene Führung, um bei Explosionsunglücken
den Druck abzuschwächen.
Ein Presswerk für Röhrenpulver. Eibia-Bezeichnung B.3330/3R, Nachkriegs-Gebäudenummer
2144.
Außenansicht mit der Zuwegung vor dem Gebäude.
Heizkörper sollten verhindern, daß das Pulver auskühlte.
Das Gebäude verfügte über einen Turmaufsatz.
Am Fuß des Turmes.
Toilette.
Blick nach oben.
Ein weiteres Produktionsgebäude im Bereich Röhrenpulver.
Dieses Gebäude zeigt Kennungen aus drei Epochen.
Eibia: B.3325/4R, Britisch: G 81 bzw. 2 M, IVG: 2120.
Gebäude 2149 wurde nach dem Krieg umgebaut und mit massivem Beton verstärkt.
Aufenthaltsgebäude mit Luftschutzkeller.
Weiteres Aufenthaltsgebäude.
NC-Bereich:
Von der Eurometaal weiter genutzte Gebäude in diesem Bereich waren rot
gestrichen.
Weiteres Eurometaal-Gebäude.
Einige Laborgebäude wurden im Stil unscheinbarer Wohnhäuser errichtet.
Gebäude 4205.
Lagerschuppen mit Gleisanschluß.
Im Bereich Nitrocellulose stehen die größten Gebäude.
Blick in den Bau.
Hier wurde unverkennbar mit Chemikalien gearbeitet.
Ein großes Nitrierhaus, hier wurde der Zellulose die Nitriersäure beigemischt.
Das Nitrierhaus.
Behälter für Produkte.
Einblick in das Gebäude.
Im Keller des Gebäudes.
Zugang zu unterirdischen Verbindungsgängen.
Blick in einen dieser Gänge.
Industrielle Anlagen
der Nachkriegsnutzung:
Ein Betriebsgebäude am Reeser Weg.
Das Hilfskesselhaus.
Bauten der Verwertchemie.
Bauten der Verwertchemie.
Militärische Anlagen
der Nachkriegsnutzung:
Das Tor zum Mainscher Lager.
Eine letzte Halle ist im T-Bereich erhalten.
Ein Munitionslagerhaus in der StOMunNdlg.
Die zwei Bunker des früheren Sondermunitionslagers der 1. PzDiv.
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